Here, There and Everywhere
Es ist ein Bild der Verwüstung, das sich dem Betrachter der Fotografien bietet: eingeschlagene Fensterscheiben, verbarrikadierte Häuser, herabfallende Ladenschilder, weggeworfener Müll, umgeworfene Straßenabsperrungen, von Plakatwänden gerissene Plakate, mit Graffiti und Stencils – mit Hilfe von Schablonen angebrachte Graffiti die sich im Straßenbild häufig wiederholen – verschmierte Wände und Rollläden. Den Betrachter mögen die Aufnahmen an Dokumentarfotografien sozialer Brennpunkte erinnern, doch findet er keinen Hinweis darauf, was hier geschehen ist. Desorientiert steht er vor den sein ganzes Blickfeld einnehmenden Fotografien.
Nicht Vandalen haben die Stadt verwüstet, sondern Haraldsdóttir und Melin am Computer. Dort haben sie ihrer anarchistischen Ader freien Lauf gelassen und die beschauliche norwegische Kleinstadt Moss in ein heruntergekommenes Vorstadtviertel verwandelt. Aus alltäglichen Straßenzügen machten sie alptraumartige Szenen: Die Straßen sind menschenleer, wie in Eile zurückgelassen liegt ein Fahrrad mitten auf der Fahrbahn, ein letzter Zug verlässt fluchtartig die Stadt.
Auslöser für diese und die anderen Fotografien der Serie waren Aufenthalte der beiden Künstler in San Francisco und Berlin. Die Erfahrung dieser beiden Städte, besonders der multikulturellen Viertel Chinatown und Kreuzberg ließ sie die ihnen vertrauten Städte neu wahrnehmen. Erst der Unterschied machte ihnen die Sauberkeit und Ordnung der skandinavischen Städte bewusst. Beide waren fasziniert von dem Ungewohnten, aber auch von der Erkenntnis, wie wenige Details ein Umfeld radikal verändern können. Und so begannen sie, in Berlin und San Francisco aufgenommene Graffitis, Obststände, Plakatwände, aber auch Personen in Aufnahmen skandinavischer Städte zu montieren und somit deren Charakter zu verändern. Aus den beiden Welten in denen sie verkehrten, aus Vertrautem und Fremdem schufen sie eine eigene Welt.
Die Künstler konfrontierten die Bewohner der Städte mit ihren Fotografien, indem sie diese in Leuchtkästen im Stadtraum installierten. Der direkte Vergleich zwischen der vertrauten Realität und der von den Künstlern imaginierten, verfremdete das Gewohnte und forderte zum Nachdenken über das Gegebene auf. Der Eingriff in ihre Umgebung und die leise Kritik an der Abgeschlossenheit ihrer Gesellschaft ließ die Bewohner empfindlich reagieren.
Doch geht es den Künstlern nicht in erster Linie um Gesellschaftskritik, vielmehr wollen sie jedem sein alltägliches Umfeld neu ins Bewusstsein rufen indem sie zu Überlegungen anregen, wie es auch aussehen könnte. Wie wird aus einer monokulturellen Kleinstadt eine multikulturelle Metropole? Wie viel braucht es, dass eine ruhige Stadt im Chaos versinkt? Wie würde sich das Verhalten der Bewohner von Moss verändern, wenn ihre Stadt tatsächlich so aussähe?
Die beiden Künstler interessiert das Entwerfen einer anderen, aber nicht unmöglichen Welt. Das Spiel mit der Realität erinnert mit umgekehrten Vorzeichen an die Komposition idealer Landschaften und rückt die digitale Bildbearbeitung in die Nähe der klassischen Malerei. Die Versatzstücke müssen, was die Perspektive, die Proportion und die Beleuchtung betrifft, in mühevoller Kleinarbeit exakt in die Stadtaufnahme eingepasst werden. Kein Fehler soll die Konstruktion entlarven.
Dennoch verrät sich dieses Spiel dem aufmerksamen Museumsbesucher, auch wenn er nicht wie der Bewohner die Manipulation sofort als solche erkennt. Neben den Graffiti und den bereits erwähnten Stencils wurden auch Cutouts – bedruckte, vervielfältigte und im Stadtraum aufgeklebte Papierposter – in die Fotografie montiert. Als Cutout–Motiv besonders beliebt sind die durch Computerprogramme bekannten Mauszeiger-Symbole wie Cursor oder Lupe. Wenn ein solches, einen Cursor zeigendes Cutout in einer der Arbeiten prominent auf die vorderste Wand platziert wird, verweist es auf die digitale Bearbeitung, auf die Fiktionalität der Szene und steht für das Spiel mit der Realität.